Der Fremde
Fremd ist der Fremde nur in der Fremde. Das ist nicht unrichtig - und warum fühlt sich ein Fremder nur in der Fremde fremd? Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist und zwar
solange, bis er sich nicht mehr fremd fühlt, dann ist er kein Fremder mehr. Sehr richtig. Wenn aber ein Fremder schon lange in der Fremde ist, bleibt er dann immer ein Fremder? Nein. Er ist nur
solange ein Fremder, bis er alles kennt und gesehen hat, denn dann ist ihm nichts mehr fremd.
(Zitat aus Kulturschock Pakistan)
Wir sind froh, unser wachsendes Bilderbuch auch mit Eindrücken aus Pakistan füllen zu können, denn Pakistan hat schöne ebenso wie negative Seiten: Eine gigantische und atemberaubende Bergwelt, herzliche und gastfreundliche Menschen, eine faszinierende kulturelle Vielfalt ... aber auch Elend, Armut, miserable hygienische Bedingungen und gewalttätige Auseinandersetzungen. Einmal mehr möchten wir uns den schönen Seiten eines Landes zuwenden, denn wie beispielsweise der Iran wird auch Pakistan in den Medien stets negativ dargestellt. Wer kennt sie nicht, die Schlagwörter wie Taliban, Entführungen, Krieg, Terror! Wenn wir aber genauer hinschauen und uns dem Land öffnen, erkennen wir, dass nicht alles mit fanatischen Islamisten oder etwa Kriegen in Stammesgebieten zu tun hat. Im Gegenteil: All jene Menschen, denen wir täglich begegnen, sind stolz, wenn Touristen in ihr Land einreisen, und sie heissen jeden bei jeder Gelegenheit in perfektem Englisch in Pakistan willkommen! Dann folgt meist sofort: “Wie geht es dir? Möchtet ihr Tee? Benötigt ihr für irgendetwas Hilfe? Hier ist meine Nummer für allfällige Notfälle oder Anliegen. Bitte ruft mich jederzeit an!"
Schnell fühlen wir uns wohl, sicher und nicht mehr fremd; das sei schon mal vorweggenommen. Alle Menschen, die wir kennen lernen, haben stets Herz, Verstand, sind gebildet und möchten immer nur Frieden und Freiheit. Wenn sie erfahren, dass wir aus der Schweiz sind, bekommen wir sehr oft zu hören: „Ach, ihr lebt im Paradies der Welt!"
Auch ein allgemeiner Eindruck, den wir bald gewinnen, sei hier vorangestellt. Die Pakistani haben dieselben Bedürfnisse und Wünsche wie wir: Sie möchten auch Geld verdienen, einen sicheren Job haben, saubere Kleider tragen, ihren Kindern etwas bieten... Das Wichtigste überhaupt aber ist ihnen ein sicheres Leben und ihre Familie.
Wir schätzen uns glücklich, selbst reisen und dadurch genauer hinschauen zu können, die Welt, die Menschen, die Natur mit unseren eigenen Augen sehen und mit allen unseren eigenen Sinnen ganz nah spüren und erleben zu können.
Es ist kurz vor Mittag, und wir stehen mit unserem Toyota Landcruiser auf 4722 m Höhe unmittelbar an der Grenze zu Pakistan. Der frisch verschneite Pass erstrahlt im gleissenden Sonnenlicht, der Himmel ist azurblau – und unsere Laune ausgezeichnet. Was will man mehr!
Ein einziges kleines, verlassen scheinendes Hüttchen steht einsam in der Nähe. Nach einigen Minuten stapfen zwei zivil gekleidete Männer durch den Schnee und kommen auf uns zu. Es sind die Grenzbeamten. Sie begrüssen uns in perfektem Englisch, werfen einen kurzen Blick in unsere Pässe und heissen uns "Welcome in Pakistan!“
Wir glauben es kaum: Wir sind in Pakistan! Wir sind in dem Land angekommen, über welches wir uns seit mehr als einem halben Jahr auf unserer ganzen bisherigen Reise kreuz und quer durch Eurasien voller Sorge am meisten den Kopf zerbrochen haben. Vor lauter Freude und Erleichterung gehen einen Moment die Emotionen mit uns durch.
Die Landschaft ist von malerischer Schönheit. Wir fahren auf schneebedeckter Fahrstrasse durch nahezu unberührte Natur -- kein Problem für unseren treuen Toyota, welchen wir liebevoll Gandalf oder Gandi nennen.
Schon nach kurzer Fahrt begegnen uns am Wegrand Strassenarbeiter. Sie winken und rufen uns freundlich zu. Ihre weissen Zähne strahlen hell aus dem dunklen und staubverschmierten Gesicht, ihre grauen, schäbigen Sakkos schauen nicht aus, als würden diese sie gross vor der Kälte schützen. Wir halten an. Reich gestikulierend laden sie uns in ihr nahes, durchlöchertes und verschmutztes Zelt zum Tee ein. Wir tippen pro forma auf die Uhr, lehnen freundlich dankend ab und fahren weiter.
Weit kommen wir jedoch nicht. Die Strasse ist durch einen Felssturz blockiert. Ein Bagger ist zu unserem Glück schon damit beschäftigt, die riesigen Steinbrocken aus dem Weg zu räumen. Warten ist angesagt.
Es ist kaum zu glauben, wie viele Pakistani sich hier oben befinden, um die Strasse zu unterhalten und zu reparieren. So knüpfen wir bereits die ersten Freundschaften mit Einheimischen und erhalten nebenbei ebenso viele nützliche Tipps bezüglich unserer Sicherheit als Besucher wie auch erste Informationen zur aktuellen politischen Lage im Land. „Ihr seid sicher, ihr werdet keine Probleme haben, habt keine Angst“, heisst es rundum. -- Und dies sollte sich später dann tatsächlich auch bewahrheiten... So vergehen die Stunden des Wartens wie im Flug, und dann ist die Strasse soweit wieder geräumt, dass wir vorsichtig vorbeifahren können.
Überwältigt von den vielen Eindrücken auf der spektakulären Passfahrt erreichen wir kurz vor der Dunkelheit Sost. Sost ist ein kleines, verschlafenes Dörfchen mit der Passroute als einzige Dorfstraße, die beidseits von diversen kleinen Geschäften gesäumt ist.
In einem ziemlich in die Jahre gekommenen Haus müssen wir uns bei Beamten einschreiben. Schnell werden unsere Pässe angeschaut, ein Stempel wird reingedrückt und ein Foto von uns geknipst. Die Räume sind karg, alt, und es ist eiskalt im Gebäude. Wir sind eingepackt in dicke Daunenjacken, während die Pakistani ihre traditionellen Stoffkleider tragen mit einem Pullover darüber. In einem anderen, fast leeren Raum, in dem einzig ein uralter Holztisch steht, wird noch unser Carnet de Passage ausgefüllt. Alles verläuft sehr einfach und unkompliziert. Das Fahrzeug draussen wird überhaupt nicht kontrolliert.
In Sost verbringen wir zwei Tage, erholen uns von den Reisestrapazen durch China und lassen uns vom pakistanischen Flair inspirieren.
Der Wecker klingelt, es ist fünf Uhr frühmorgens, wir müssen wegen Strassenarbeiten bereits vor sechs Uhr nach Passu gelangen, da später kein Durchkommen mehr sei.
Ein Polizist hat sich am Vorabend noch bei uns gemeldet; ob wir ihm eine Mitfahrgelegenheit nach Passu bieten könnten. Kein Problem! -- Als er um 5.30 Uhr immer noch nicht bei uns erscheint, geht Roy ihn in seinem Zimmer wecken. Verschlafen schlurft er zu uns und steigt ein. Wir fahren schnell los. Es ist dunkle Nacht, eiskalt, und es schneit in wunderschönen, riesigen Flocken.
Der Polizist scheint noch immer nicht richtig wach zu sein. Ich frage ihn: „Mein Freund, wie spät ist es bei dir?“ „Vier Uhr morgens“, antwortet er müde. Langsam dämmert uns, weswegen es so stockdunkel ist und auch unsere Augenlider noch stark geschwollen sind. Roy und ich schauen uns kurz an, dann brechen wir gleichzeitig in herzhaftes Gelächter aus. Unser Handy hat die Zeit nicht umgestellt! Sofort nehmen wir Gas weg und erreichen dennoch locker rechtzeitig unser Ziel.
Von einem österreichischen Fahrradfahrer, den wir in Sost kennengelernt hatten, erhielten wir die Empfehlung, bei Passu zum schönen Borith Lake zu fahren. Dort gäbe es auch ein nettes Gasthaus. Gesagt, getan. Im Gasthaus angekommen lernen wir bald Anna und Martin kennen, ein junges deutsches Pärchen, das mit dem Rucksack unterwegs ist. Schnell freunden wir uns an und beschliessen, gemeinsam nach Shimshal zu fahren.
Völlig übernächtigt stürzen wir uns zwei Tage später zusammen mit unseren neuen Freunden ins nächste Abenteuer Richtung Shimshal.
Shimshal ist eine sehr abgelegene kleine Dorfgemeinschaft in Pakistan. Bis Oktober 2003 war dieses Dorf nur in einem etwa dreitägigen Fussmarsch durch Schluchten, über Moränen und Gletscher und mit zahlreichen Flussdurchquerungen erreichbar. Heute führt eine 56 km lange, abenteuerliche Naturpiste in das auf 3000 m hoch gelegene Shimshal.
In Passu füllen wir unsere Vorräte für die kommenden Tage im Shimshal-Valley auf, und los geht’s auf der verrücktesten Strasse der Welt. Diese Strasse, oder besser gesagt diese Spur, schlängelt sich zunächst dem Shimshalfluss entlang durch eine grandiose, gigantische Schlucht in urgewaltiger Gebirgslandschaft. Der schmale, einspurige Weg wird bald extrem spektakulär, denn er wurde teilweise in senkrechte Felswände hineingehauen, so dass wir wiederholt nur Zentimeter neben unseren Wagenrädern Hunderte von Metern senkrecht in die Tiefe direkt auf den tobenden Bergfluss hinuntersehen können. Diese Felsgalerien sind zum Teil so niedrig gebaut, dass wir mit unserem leicht aufgebauten „Gandalf“ einige Male mit nur noch ein bis zwei Zentimetern Zwischenraum knapp durchpassen. Glück gehabt! Manchmal kommen wir an Stellen, wo zur Ausebnung oder auch zur Stabilisierung des Fahrweges lose Steine mit Holzknebeln in den Zwischenräumen eine Art Stützmauer bilden, und mehr als einmal fragen wir uns beim vorsichtigen Befahren mit mulmigem Gefühl, ob das Ganze unsere knapp vier Tonnen wirklich aushalten wird. Aber so kriminell es jeweils aussieht: Es hält! Auf dieser ganzen Strecke zu wenden oder etwa nur einem entgegenkommenden Auto auszuweichen wäre ein Ding der Unmöglichkeit. So fahren wir guten Mutes einfach immer weiter und hoffen, dass dies nicht eintreffen wird. Unterwegs lesen wir fünf Pakistani auf, die zu Fuss nach Shimshal unterwegs sind. Sie stehen hinten auf der Stossstange und krallen sich an der Dachrinne fest. Über Hängebrücken überqueren wir den Shimshal-River insgesamt fünf Mal, und nach faszinierenden fünf Stunden Fahrt kommen wir schliesslich zu neunt müde und wohlbehalten im Dorf an, wo uns eine überaus nette Familie sogleich mit Tee und leckerem Brot empfängt.
Tipp für Shimshal-Selbstfahrer: Nur mittags ab 12 Uhr von Passu nach Shimshal losfahren. In die entgegengesetzte Richtung nur frühmorgens losfahren; 7 Uhr ist optimal, um das Entgegenkommen des Shimshal-Sammeltaxis zu vermeiden.
Ayub, unser Gastgeber und Vater von vier Kindern, lebt mit seiner Familie in einem der traditionellen Shimshal-Häuser. Er selbst ist schon in Shimshal zur Welt gekommen. Stolz erzählt er vom einstigen Bau seines Hauses (und uns fällt dabei auf, dass der Baustil derselbe ist, wie wir ihn schon bei den Pamir-Häusern in Tajikistan kennen gelernt hatten). Das kleine, einfache Haus besteht aus einem winzigen, düsteren, länglichen Vorraum, der einem Wintergarten ähnelt, und einem quadratischen Hauptraum. Dieser Wohnraum ist an seinen vier Seiten podestartig höher gelegt und erinnert an eine kleine Rundumgalerie. Die fünf verzierten Stützsäulen im Raum sind aus Holz, tragen das Dach und symbolisieren zusammen eine heilige Familie, die man sich in diesem Haus zum Vorbild nimmt. Alle fünf Säulen haben je ihren eigenen Namen und ihre spezielle Bedeutung.
Ayub erklärt, dass die erste Säule namens Sasitan im Zentrum des Raumes Mohammed symbolisiert. Die zweite Säule heisst Bogznechsitan und ist das Symbol für Ali. Ein frisch verheiratetes Paar sitzt in den ersten Tagen nach der Hochzeit hauptsächlich in der Nähe dieser Säule, in der Hoffnung auf eine Segnung für ein langes, gemeinsames, glückliches Leben. Die dritte Säule heisst Kicorsitan und bedeutet Fatima, die Frau von Ali. Sie steht in enger Verbindung mit allen häuslichen und hauswirtschaftlichen Tätigkeiten. Die vierte Säule symbolisiert Hasan, den ältesten Sohn Ali’s. Die fünfte und letzte Säule mit Namen Barnechsitan ist dem Imam Husein zugeordnet.
Die Holzdecke des Daches, die aus vier ineinander gefächerten Quadraten besteht, stellt die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer dar. Das charakteristische kleine eckige Fenster zuoberst in der Mitte, erzählt uns Ayub weiter, wird Ruz genannt und lässt sich als Klappfenster verschliessen. Durch das kleine Fenster zieht der Rauch des Ofens ab, der ebenso als Kochstelle wie als Heizung dient. Weitere Fenster gibt es keine. So bietet das Haus eine gute Isolation gegen Kälte wie Hitze und stellt zugleich ein guter Schutz dar für unerwünschte Gäste irgendwelcher Art.
Uns fallen verschiedene für uns selbstverständliche Dinge auf. Fliessendes Wasser beispielsweise ist nicht vorhanden. Elektrischen Strom gibt es nur unregelmässig –– und über mehrere Monate im Jahr überhaupt nicht, da der Fluss, der ein kleines Kraftwerk antreibt, im Sommer oft zu wenig Wasser führe und im Winter zufriere. Sanitäre Einrichtungen gibt es im ganzen Haus nicht, Möbel wie Tische, Stühle oder Betten fehlen gänzlich. Zum Essen sitzen alle am Boden, lediglich ein plastifiziertes, mit Blumenmustern geschmücktes Tischtuch wird ausgebreitet. Die Familie schläft auch auf dem Boden, dazu werden am Abend jeweils dünne Matten oder Teppiche ausgebreitet. Eine Privatsphäre, wie wir sie kennen und haben, gibt es hier keine.
Zur traditionellen Tätigkeit seien hier Ayub’s Angaben kurz zusammengefasst.–– Ein bekannter Bergsteiger habe die Verzierungen an den fünf Stützen geschnitzt. Leider sei dieser zusammen mit zwei weiteren Shimshali letztes Jahr auf dem Gaherbrum (8068 m ü.M.) beim Abstieg zu Tode gestürzt. Viele Shimshali haben sich als Expeditionsführer oder als sogenannte Hochträger einen Namen gemacht. Ayub selbst war sogar schon auf dem K2 und auf dem Mount Everest gewesen. Seit Generationen werden die Bergführerqualitäten an die Shimshali-Söhne weitergegeben. (Auch Ayub wirft deswegen stolz manchmal einen Blick auf seinen 12-jährigen Sohn, welcher seinen Vater täglich auf kleineren Touren begleitet.) Shimshal beherbergt unter anderem auch eine eigene Bergführerschule, wo man sich zum Bergführer ausbilden lassen kann.
Während Ayub’s Frau mit dem Auftischen ihres leckersten selbstgebackenen Brotes kaum nachkommt, fährt Ayub fast schwärmerisch mit seinen Geschichten in perfektem Englisch fort.
Wir erfahren, dass die Shimshali ein Volk sind, das ursprünglich aus dem Wakan-Korridor stammt, aus jener Schlucht also, welche nördlich entlang der Grenze zu Afghanistan verläuft. Die Shimshali sprechen ihre eigene Sprache (Wakan) und haben bis heute ihre eigene Kultur bewahrt. Fast alle Shimshali sind Ismailiten (auch „Ismailiden“ oder „Ismaeliten“), eine islamisch-schiitische Glaubensgemeinschaft. Sie leben eine sehr moderne Form des Islams, sind weltoffen und sehr interessiert an anderen Kulturkreisen. Die Frauen verrichten Arbeiten auch im Freien, leben also weder abgeschottet oder eingeschränkt hinter Mauern noch sonst wie in Parda (wörtlich: „Vorhang“, engl. „purdah“. Gemeint ist die in Pakistan und Indien verbreitete Form der islamischen Verschleierung mittels Burka-artigem Ganzkörpergewand und/oder Tschador und Niqab genannte Gesichtsschleier. In der englischen Umgangssprache ist das Wort „purdah“ auch ein Synonym für Segregation im Sinne der Geschlechtertrennung.) Der auch in Europa hoch angesehene Aga Khan ist der Führer der Ismailiten. Er wurde übrigens in Genf geboren und ging auch in der Schweiz zur Schule. Heute lebt er vorwiegend in Paris. Die Aga Khan Stiftung betreibt auch Shimshal-Schulen und medizinische Einrichtungen.
Die uneingeschränkte Gastfreundschaft, die Freundlichkeit und Heiterkeit der Shimshali geniessen wir sehr. Wir fühlen uns wohl, sicher und als gern gesehene Gäste stets willkommen. Es ist wunderbar, diesen warmherzigen und offenen Menschen begegnen zu dürfen.
Nach vier erlebnisreichen Tagen und zwei Trekkings in den Beinen verabschieden wir uns wieder von Shimshal und nehmen den waghalsigen Weg zurück nochmals „unter die Räder“. Mit Anna, Martin und zwei weiteren Begleitern fahren wir schliesslich direkt nach Gulmet.
Der Attabad Lake ist ein grosser See, der im Jahr 2010 in der gesamten Talbreite durch zurückgestautes Wasser wegen eines riesigen Erdrutsches gebildet wurde. 28 Menschen kamen dabei um. Dem Karakorum Highway wurde der Weg abgeschnitten, und die Passstrasse ist seither für Fahrzeuge unpassierbar, weil sie buchstäblich untergegangen ist.
Die vorherrschende Meinung, der Karakorum Highway könne seit 2010 nicht mehr ganz befahren werden, ist schlichtweg falsch. Die Pakistani sind sehr erfinderisch und verladen ihre Waren, aber auch Fahrzeuge wie Motorräder oder etwa Traktoren, auf Fischerboote. So lässt sich das Hindernis See unbeschadet überqueren. So also tun auch wir es...
Es ist spät am Nachmittag, als unsere Freunde Anna, Martin, Christiane und wir beide zusammen den See erreichen. Kein Boot ist da. Um die Langeweile des Wartens zu überbrücken, kochen wir direkt am Seeufer spontan eine Vanillecreme. Tja, und wenige Minuten später stehen wir denn alle mit einem Esslöffel in der Hand um den Kochtopf und schlemmen gemeinsam den köstlichen Dessert.
Die Sonne hängt wie eine Feuerkugel nur noch knapp über dem gewaltigen Bergpanorama, als wir für 7000 Rupien (ca. 70 USD) ein Fischerboot mieten können, und es ist nach Sonnenuntergang und bereits stockdunkel, als Roy unseren Gandi über die stabil gelegten Holzlatten vorsichtig aufs Boot manövriert. Alles verläuft für unsere Begriffe etwas ungeordnet bis chaotisch, doch die pakistanischen Jungs verstehen ihr Handwerk wirklich gut. "No problem" heisst es bei unseren Fragen stets. Die Boote, sagt man uns, würden bis zu 30 Tonnen tragen, und es werden tatsächlich sogar Lastwagen und Busse verfrachtet.
In gemächlichem Tempo fährt unser Boot dann über den ruhigen See. Es ist eine sternenklare Nacht und fast Vollmond, die schneebedeckten Bergriesen von 6000 und 7000 m Höhe können wir gut erkennen. Zur ruhigen, eindrucksvollen Beschaulichkeit auf dem See und zur inneren Begeisterung für diese einmalige Überfahrt mischt sich bei mir auch ein bisschen Wehmut, denn die spektakulären Fotos, die ich bei Tageslicht hätte schiessen können, sind für immer verloren. So präge ich mir diese Nacht auf dem Boot zur späteren besseren Erinnerung um so intensiver in mein Gedächtnis ein. Wir fühlen uns während der ganzen Fahrt sicher und würden unser Fahrzeug hier jederzeit wieder verschiffen.
Die Chinesen, die ihren Anteil an dieser wichtigen Transitroute Karakorum Highway schon seit Jahren für ihre Bedürfnisse am Ausbauen und Verbessern sind, versuchen den Wasserpegel des Sees gleichmässig und kontrolliert zu senken. Angeblich sollen die Chinesen in Karachi, im Süden Pakistan’s, einen grossen Hafen haben, um ihre Produkte per Schiffe in die ganze Welt zu verfrachten. Die Pakistani erzählen uns in grösster Überzeugung die wildesten Geschichten über das Ablassen des Seewassers durch die Chinesen. Tatsache ist, dass sich die Höhe des Wasserpegels nur sehr langsam verändert, und es wird wohl noch Jahre dauern, bis die pakistanische Regierung oder die chinesische Führung eine saubere Lösung des Problems finden werden. Wie auch immer –– wir sind zwar etwas gar abenteuerlich, aber vor allem heil und sicher über den See gekommen.
Karimabad, ein malerisches Dorf im Hunza Valley auf 1800 m, liegt an einem steilen Hang mit perfekter Sicht auf den Rakaposhi (7788 m ü.M.). An keinem anderen Ort gibt es einen solch gigantischen Ausblick auf eine Bergwand von 6000 m Höhe. Hier verweilen wir in einem gemütlichen Gasthaus gerne ein paar Tage, um unsere „Batterien“ wieder vollständig aufzuladen. Unsere Mitreisenden Anna, Martin und Christiane tun es uns gleich, bis sich dann wenig später unsere Wege wieder trennen werden. Wir verbringen also die Tage mit Postkarten schreiben, Webseitenbearbeitung, Shoppen, geniessen gutes Essen, die Sonne und lassen ganz einfach die Seele baumeln.
Das Volk der Hunza ist bekannt für seinen gesunden Lebensstil. Den Hunza wird nachgesagt, dass ihre Lebenserwartung enorm hoch sei. Das Schweizer Birchermüesli von Dr. Bircher wurde übrigens hier bei den Hunza entdeckt und danach weltweit als ''Der Gesundmacher'' vermarktet. Uns gefällt es hier ausgezeichnet. Wir sind überzeugt, dass man in Hunza alt und glücklich werden kann –– und wie um dies zu unterstreichen, bekommen wir unverhofft Gelegenheit zum Besuch einer Hochzeit im Dorf...
Der Besitzer unseres Gasthauses lädt Anna, Martin, Roy und mich spontan zur Hochzeit seiner Schwester ein. Pünktlich zur vereinbarten Zeit stehen wir dann vor dem Festgelände. Nach zwei Stunden geduldigem Warten fahren plötzlich diverse kunterbunt geschmückte Autos vor. Eine kleine Menschenansammlung mit leuchtenden, farbenfrohen, glitzernden, langen, wunderschönen Kleidern findet sich nach dem Aussteigen zusammen. Es sind die Frauen der Hochzeitsgesellschaft. Schnell huschen sie an den eher farblos und langweilig gekleideten Männern vorbei und begeben sich in ihre eigene Räumlichkeit. Danach folgen die Männer in ihren von den Frauen getrennten Raum.
Wir als Touristenpaare dürfen zusammenbleiben und bei den Männern mitfeiern. Wir sitzen also in einer der hinteren Sitzreihen in einem grossen, ganz gewöhnlichen Saal. Am anderen Ende des Raums ist die Bühne mit grellen Girlanden geschmückt. Auf der leeren Bühne steht lediglich in der Mitte ein Sofa, auf welches sich der Bräutigam alleine hinsetzt und dem nun folgenden Blitzlichtgewitter der vielen Kameras ziemlich hilflos ausgeliefert erscheint.
Einerseits eher gelangweilt sehen wir dem Ganzen zu und warten andrerseits gespannt auf das Buffet, das bald eröffnet werden soll. Als es soweit ist, wird dem Alter nach angestanden. Wir als Touristen gehören vor den Kindern in die Reihe. Dem hungrigen bis gierigen Verhalten der Gäste nach zu urteilen könnte man meinen, alle hätten seit Wochen nichts mehr zu essen gehabt. Die Männer vor uns jonglieren ihre masslos überfüllten Teller durch die Reihen, und kaum sitzen sie, verschwindet das Essen blitzartig in ihren Mägen. Und kaum ist der Teller leer, wird erneut angestanden. Als wir mit unserer ersten Portion fertig werden, ist das Dessertbuffet bereits leergeräumt. Pech gehabt! Nicht einmal ganz eine Stunde später bleiben nur noch die Essensreste auf und neben den Tellern übrig und das ganze Spektakel ist zu Ende. Die Frauen, die getrennt gespeist haben, erscheinen wieder und die ganze Gesellschaft verteilt sich wie gehabt zügig in die bunt geschmückten Autos und verschwindet.
Wir erholen uns wenig später draussen auf der Terrasse von diesem überfallartigen Spuk und geniessen in Ruhe die einmalige Aussicht auf den Rakaposhi.
Abends ist es draussen schon bald nicht mehr so gemütlich, langsam kündigt sich hier oben in den Bergen der Winter an. Uns zieht es weiter südwärts in wärmere Regionen. Über Gilgit, Skardu und die Hochebene Deosei Plains verabschieden wir uns allmählich von den Bergriesen und fahren weiter bis nach Chillas.
In Chillas –– so heisst es dort –– sollen wir eine Polizeieskorte bekommen, die uns durch die heiklen Gebiete bis Islamabad begleiten werde.
Die ersten Momente des neuen Tages beginnen mit einem flauen Gefühl im Magen, denn wir sind etwas nervös bezüglich der bevorstehenden Fahrt mit der angekündigten Eskorte. Viele Fragen schwirren uns bereits zu früher Stunde durch den Kopf, und das Birchermüesli fühlt sich heute Morgen besonders trocken an. Noch einmal atmen wir vor dem Starten tief durch, dann geht’s los. Als wäre nichts brummt der Motor wie immer vor sich her. Bei prächtigem Sonnenaufgang fahren wir zügig aus Chillas hinaus und hoffen, bald auf die vorgesehene Eskorte zu treffen.
Gut zwei Kilometer nach Chillas taucht endlich die Polizeistation auf. Nach einigen Minuten des Wartens steht ein Fahrzeug startbereit, bestückt mit vier bewaffneten Polizisten. Wir fahren los, der Polizeiwagen hinter uns. Immer noch etwas nervös und mit dem Gedanken, hoffentlich geht alles gut, schaue ich nach kurzer Wegstrecke aus dem Fenster zurück und frage mich unvermittelt: „He, wo ist denn unsere Eskorte geblieben?“ Wir halten an und warten. Weit und breit ist kein Fahrzeug zu sehen. Die Eskorte hat sich, wie wir nach geraumer Zeit feststellen müssen, bereits nach 1000 Metern in Luft aufgelöst! So nehmen wir die angeblich heikle Strecke eben alleine in Angriff. Die Landschaft ist karg und wirkt fast gespenstisch. Unterwegs passieren wir etliche Polizeikontrollposten, wo man uns jeweils nach unserem Herkunftsland fragt. "Ach, ihr seid aus der Schweiz? Touristen! Kein Problem, ihr könnt ruhig weiter fahren –– auch ohne Eskorte!“. Vor dem Gas geben heisst unsere kurze Antwort immer nur: „Okay!“
Erneut verändert sich die Landschaft; sie wird immer grüner, saftiger, und wir spüren, dass auch die Temperatur deutlich ansteigt. Bereits seit Stunden sind wir unterwegs, und unsere Mägen beginnen zu reklamieren. Eigentlich wollten wir zügig und ohne Aufmerksamkeit zu erregen durch dieses Gebiet fahren. Jetzt jedoch benötigen wir dringend eine Pause. Da es keine andere Möglichkeit gibt, halten wir am Strassenrand an und essen endlich eine Kleinigkeit. Erstaunlicherweise fühlen wir uns immer sicherer und die Nervosität ist längst verflogen, denn auch in dieser Gegend winken und lachen uns die Pakistani stets entgegen.
Kurz vor Islamabad, als die Sonne eben am Horizont verschwindet, biegen wir erschöpft von der langen und anstrengenden Fahrt in die nahen Hügel ab. Wenig später schliesse ich in der herrschenden Dunkelheit die Augen, atme die Stille rundherum, bin dankbar, dass wir unbeschadet den Tag überstanden haben, und sinke in einen sanften, traumlosen Schlaf, noch bevor das Lächeln um meine Lippen ganz verblasst ist.
Der nächste Morgen beginnt überraschenderweise mit einem würzig duftenden Chai (Tee), gesüsst mit viel Zucker, und mit leckeren, selbstgebackenen Biscuits, welche uns vom Präsidenten des winzigen Dorfes, in dem wir gelandet sind, sowie von einem hiesigen Lehrer zur Begrüssung offeriert werden. Sie laden uns auch ein, die lokale Primarschule zu besuchen. –– Dort erkennen wir wenig später als etwas vom Ersten, dass die staatliche Schule weder Schulbänke noch Stühle besitzt. Die Schüler und Lehrer sitzen wohl meist am Boden, wenn sie nicht stehen. Die Mädchen wie die Jungs knien im Moment unseres Erscheinens grad am Boden auf einem Tuch, schön in einer Reihe der Wand entlang. Vor jedem Kind liegt dessen Schulmappe, welche ihm als Schreibunterlage dient. Ich glaube, wir selbst könnten gewiss kaum zehn Minuten auf diesem harten, kalten Boden in dieser Körperstellung ausharren! –– Mit einem mitgebrachten Wasserfarben-Malkasten und ein paar Fotos bedanken wir uns herzlich für den spannenden Vormittag, bevor wir uns verabschieden.
Bei der Ankunft im familiären Backpackers in Lahore erfahren wir, dass heute Abend eine Sufi-Night stattfindet. (Wer sich näher dafür interessiert, gehe bitte dem Stichwort „Sufismus“ nach.) Zwar sind wir von der Reise von Islamabad bis nach Lahore ziemlich müde, trotzdem entscheiden wir uns aus Neugier, den Inhaber des Hotels zusammen mit ein paar weiteren interessierten Touristen zu dieser Party, die etwas absolut Einmaliges sein soll, zu begleiten.
Pünktlich um die vereinbarte Zeit holt uns ein Fahrer mit seinem Moped-Tuk-Tuk vor dem Gasthaus ab. Drei Personen sitzen vorne auf dem Moped, während sich die restlichen sechs ins Innere des Gefährts zwängen. Barfuss betreten wir den “heiligen Schrein“, in welchem bereits hunderte von Pakistani auf dem Marmorboden sitzend geduldig auf das angekündigte Trommelgewirbel warten. Den einheimischen Frauen ist der Eintritt an solche Veranstaltungen verwehrt, zum Glück aber nicht Touristinnen. So befinde ich mich denn als einzige Frau in dem magisch-düsteren, mit Kerzenlicht erhellten und mit exotisch duftenden Räucherstäbchen ausgeschmückten Vorhof des „heiligen Schreins“ ebenfalls am Boden sitzend, inmitten der versammelten Männerwelt zwischen Roy und den anderen männlichen Touristen. Die anfänglich kurzen und scheuen Blicke der Pakistani stören mich nicht, ich fühle mich in der anwesenden Männerrunde wohl, akzeptiert und respektiert.
Mit Trommelklängen und Gesang setzen die zwei Hauptartisten, die Gebrüder Gunga Sain & Mithu Sain, die beteiligten Tänzer allmählich in Trance. Der Rauschzustand wird durch das reichliche Konsumieren von Marihuana kräftig bestärkt. Für die Sufis bedeuten die Musik und die spezielle Art, sich dazu zu bewegen, Ausdruck der Freude in der Gegenwart ihres Gottes. Mit den Liedern werde die Liebe zum Propheten Mohammed rezitiert, erläutert uns der Inhaber des Hotels. Die beiden auftretenden Brüder sind weltbekannte Stars auf ihrem Gebiet und verstehen ihr Trommelhandwerk wie keine anderen. Für uns Europäer ist es äusserst eindrücklich, diese spezielle Stimmung einen Abend lang miterleben zu können. Kurz vor Mitternacht dann ist der ganze Spuk vorbei, und die friedliche Männerrunde löst sich ruhig auf. Und für uns ist es nach dem heutigen langen und erlebnisreichen Tag sowieso längstens Zeit, in die Federn zu gehen...
Hier eine kleine Kostprobe auf youtube:
Den letzten Tag von insgesamt fünf Wochen Pakistan lassen wir mit einer geführten historischen Stadtbesichtigung durch Lahore ausklingen. Wir sind sehr, sehr dankbar, auch in diese für uns eher fremde Kultur einen vertieften Einblick erhalten zu haben, freuen uns überhaupt, so privilegiert die ganze Welt bereisen zu dürfen und fühlen uns mit unseren bisherigen Erfahrungen einmal mehr bestätigt im eingangs zu diesem Bericht vorangestellten Zitat...
Was gibt es schöneres, als die Welt mit den eigenen Augen zu sehen!!